8.1.2 Stammfunktionen



Im Kontext dieses Kurses werden die Fragestellungen der Integralrechnung für Funktionen auf „zusammenhängenden“ Definitionsbereichen betrachtet, wie dies für viele praktische Fragestellungen von besonderer Bedeutung ist. Mathematisch formuliert, werden die Definitionsbereiche der Funktionen Intervalle sein. Dazu passend werden hier Stammfunktionen auf Intervallen definiert, mit denen die Frage nach der „Umkehrung“ der Ableitung betrachtet wird.

Stammfunktion 8.1.1  
Gegeben ist ein Intervall D und eine Funktion f:D. Wenn es eine differenzierbare Funktion F:D gibt, deren Ableitung gleich f ist, für die also F'(x)=f(x) für alle xD gilt, dann heißt F eine Stammfunktion von f.


Zunächst sollen einige Beispiele betrachtet werden.
Beispiel 8.1.2  
Die Funktion F mit F(x)=-cos(x) hat die Ableitung

F'(x)=-(-sin(x))=sin(x).

Somit ist F eine Stammfunktion von f mit f(x)=sin(x).


Beispiel 8.1.3  
Die Funktion G mit G(x)= 1 3 e3x+7 hat die Ableitung

G'(x)= 1 3 ·3·e3x+7 .

Deshalb ist G eine Stammfunktion von g mit g(x)=e3x+7 .


Es wird noch ein ganz einfaches Beispiel betrachtet, an dem ein wichtiger Aspekt deutlich wird, wenn eine Stammfunktion gesucht wird.
Beispiel 8.1.4  
Es sei H eine konstante Funktion auf einem Intervall mit dem Funktionswert H(x)=18 gegeben. Dann hat H die Ableitung

H'(x)=0.

Deshalb ist H eine Stammfunktion von h mit h(x)=0.


Das letzte Beispiel ist wenig überraschend, denn die Ableitung einer konstanten Funktion ist die Nullfunktion. Somit ist jede konstante Funktion F eine Stammfunktion von f mit f(x)=0 auf einem Intervall, das heißt, es ist F(x) gleich irgendeiner Zahl C für jeden x-Wert. Andere Möglichkeiten, als dass es sich um irgendeine konstante Funktion handelt, gibt es aber nicht, wenn f auf einem Intervall definiert ist.

Alle Stammfunktionen der Nullfunktion 8.1.5  
Es ist F genau dann eine Stammfunktion von f mit f(x)=0 auf einem Intervall, wenn F eine konstante Funktion ist, das heißt, wenn es eine reelle Zahl C gibt, sodass F(x)=C für alle x-Werte des Intervalls ist.


Wenn die Funktionen F und G dieselbe Ableitung f=F'=G' haben, dann ist G'(x)-F'(x)=0. Bildet man nun auf beiden Seiten der Gleichung die Stammfunktion auf einem Intervall, dann erhält man den Zusammenhang G(x)-F(x)=C. Somit ist G(x)=F(x)+C. Hat man also mit F eine Stammfunktion von f gefunden, dann ist auch G mit G(x)=F(x)+C eine Stammfunktion von f.

Aussage über Stammfunktionen 8.1.6  
Wenn F und G Stammfunktionen von f:D auf einem Intervall D sind, dann gibt es eine reelle Zahl C, sodass

F(x)=G(x)+C       für alle   xD

gilt. Hierfür schreibt man auch

f(x)dx=F(x)+C,

um auszudrücken, wie sämtliche Stammfunktionen von f aussehen.


Die Gesamtheit aller Stammfunktionen wird auch unbestimmtes Integral genannt und in der oben eingeführten Form

f(x)dx=F(x)+C

notiert, wobei F irgendeine Stammfunktion von f ist.

Durch die Schreibweise des unbestimmten Integrals wird betont, dass zur gegebenen Funktion f eine Funktion F mit F'=f gesucht wird. Wie damit das (bestimmte) Integral einer stetigen Funktion f berechnet werden kann, beschreibt der Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung, der im nächsten Abschnitt in 8.2.3 erläutert wird.

Und woher kennt man den Wert dieser Konstanten C? Ist nur nach einer Stammfunktion von f mit f(x)=0 auf einem Intervall gefragt, ohne dass weitere Anforderungen bekannt sind, ist C nicht festgelegt. Erst wenn zusätzlich ein Funktionswert y0 =F( x0 ) von F an einer Stelle x0 vorgegeben wird, ist dann auch C festgelegt.
Beispiel 8.1.7  
Beispielsweise ergibt sich für f mit f(x)=2x+5 dann

(2x+5)dx= x2 +5x+C.

Wenn nun diejenige Stammfunktion F von f gesucht wird, für die F(0)=6 gilt, dann muss 6=F(0)= 02 +5·0+C=C und somit C=6 sein. Damit ist dann F(x)= x2 +5x+6.
Notiert man die Beziehung zwischen Ableitung f=F' und Stammfunktionen F in der eben besprochenen umgekehrten Sichtweise für die bisher betrachteten Funktionsklassen, ergibt sich die folgende Tabelle:

Eine kleine Tabelle von Stammfunktionen 8.1.8  
Es werden Funktionen f auf einem Intervall betrachtet, zu denen die Stammfunktionen in der Schreibweise des unbestimmten Integrals angegeben werden:

Funktion   f Stammfunktionen   F f(x)=0F(x)=0dx=C f(x)= xn F(x)= xn dx= 1 n+1 · xn+1 +C f(x)=sin(x)F(x)=sin(x)dx=-cos(x)+C f(x)=sin(kx)F(x)=sin(kx)dx=- 1 k cos(kx)+C f(x)=cos(x)F(x)=cos(x)dx=sin(x)+C f(x)=cos(kx)F(x)=cos(kx)dx= 1 k sin(kx)+C f(x)=ex F(x)=ex dx=ex +C f(x)=ekx F(x)=ekx dx= 1 k ekx +C f(x)= x-1 = 1 x F(x)= 1 x dx=ln|x|+C   für   x>0   oder   x<0

Hier bezeichnen k und C beliebige reelle Zahlen mit k0 und n eine ganze Zahl mit n-1.


Das nächste Beispiel zeigt, wie die Tabelle gelesen wird.

Beispiel 8.1.9  
Zur Funktion f mit f(x)=10 x2 -6=10 x2 -6 x0 wird das unbestimmte Integral gesucht. Aus der obigen Tabelle können Stammfunktionen zu g mit g(x)=x und h mit h(x)= x0 =1 abgelesen werden: Es ist G mit G(x)= 1 1+1 · x1+1 = 1 2 · x2 eine Stammfunktion von g und H mit H(x)= 1 0+1 · x0+1 =x eine Stammfunktion von h. Somit ist die Funktion F: mit

F(x)=10· 1 2 x2 -6·x=5 x2 -6x

eine Stammfunktion von f. Damit wird durch

(10x-6)dx=5 x2 -6x+C

die Gesamtheit der Stammfunktionen von f: mit f(x)=10x-6 beschrieben, wobei C für eine beliebige reelle Zahl steht.

Die Schreibweise mit der Konstanten C drückt aus, dass beispielsweise auch G: mit G(x):=5 x2 -6x-7 eine Stammfunktion von f ist, wobei C=-7 ist, denn es ist G'(x)=5·2x-6=f(x) für alle x.


In Tabellenwerken wird auf die Angaben der Konstanten oft verzichtet. In einer Rechnung ist es allerdings wichtig, anzugeben, dass es mehrere Funktionen geben kann. Bei der Lösung anwendungsbezogener Aufgaben wird die Konstante C häufig durch die Angabe weiterer Bedingungen wie beispielsweise die Angabe eines Funktionswertes einer Stammfunktion festgelegt.



Ein praktischer Hinweis 8.1.10  
Die Überprüfung, ob man eine Stammfunktion einer vorgegebenen Funktion f richtig gebildet hat, ist sehr einfach. Man bestimmt die Ableitung der gefundenen Stammfunktion und vergleicht diese mit der ursprünglich vorgegebenen Funktion f. Stimmen beide überein, dann war die Rechnung richtig. Stimmt das Ergebnis der Probe nicht mit der Funktion f überein, so muss die Stammfunktion noch einmal überprüft werden.